Angelika Treibel 
   
Nützliches:
Vier Grundregeln für Gespräche mit Betroffenen von sexuellen Grenzverletzungen, Gewalt und anderen hoch belastenden Ereignissen
  
   

 

            Hier finden Sie vier Regeln für die Gesprächsführung mit Menschen, die von einem hoch belastenden Ereignis betroffen sind. 

Wie kam es zu diesen Regeln?
Angeregt wurde die Entwicklung dieser Regeln durch die Nachfrage von Studierenden der Hochschule Mannheim im Jahr 2015. Sie hatten mich gefragt, worauf es denn ankäme, wenn man mit Betroffenen von Gewalt zum ersten Mal spricht. Mein erster Gedanke war, dass die Beantwortung dieser Frage ein abendfüllendes Thema sei. Und so blieb ich den Studierenden die Antwort auf diese Frage zunächst schuldig. Ich habe mir dann darüber Gedanken gemacht, ob es nicht doch sehr eingrenzbare und klar benennbare Aspekte sind, die den positiven Verlauf insbesondere eines "ersten Gesprächs" bestimmen. Deshalb habe ich mir folgende Fragen gestellt:
Was ist die Summe meiner Erfahrungen aus Gesprächen mit Betroffenen? Welche fachlichen Befunde gibt es? Was ist das Gemeinsame an den Gesprächen, von denen ich selbst sagen würde, dass sie "gut verlaufen" sind? Auf welche Gesprächssituationen genau möchte ich mich beziehen?
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Gewissermaßen als "Blaupause" für die Entwicklung der Regeln diente die Situation, dass man unerwartet von einer Person ins Vertrauen gezogen wird, die Opfer eines sexuellen Übergriffs oder von Gewalt geworden ist - und die sich möglicherweise zum ersten Mal jemandem anvertraut. Also eine Situation, die einerseits hohe Sensibilität verlangt und gleichzeitig zu einem hohen eigenen Stresslevel führt. Für solche Situationen sind die Regeln gedacht.

Die Regeln waren also die Antwort auf meine Fragen und die Frage der Studierenden.

Seitdem habe ich die Regeln in unterschiedlichen Kontexten und Variationen als grundlegende Orientierungshilfe vermittelt und dazu sehr positive Rückmeldungen erhalten. Im Jahr 2021 habe ich die Regeln überarbeitet. Aus den ursprünglichen fünf Regeln sind nun vier Regeln geworden, abgekürzt als „PABB-Regeln“ (siehe Kasten weiter unten).  
Zielsetzung der Regeln ist es, dazu beizutragen, dass
  • das Gespräch für die betroffene Person hilfreich ist, 
  • Sie als Gesprächspartner*in geschützt werden, 
  • die betroffene Person geschützt wird, 
  • der Bewältigungsprozess der betroffenen Person positiv beeinflusst wird,
  • die betroffene Person über die Situation hinaus bedarfsgerecht Unterstützung bekommt.
Die Regeln sind eher an einem zufälligen oder privaten Kontext eines Gespräches orientiert, weniger an einem professionellen Setting. Wenn Sie Gespräche mit Betroffenen in einer klar definierten professionellen Rolle führen, dann ergeben sich hieraus möglicherweise weitere bzw. andere Regeln. "Falsch" sind die Regeln auch für ein professionelles Setting nicht. Auch hier können sie eine hilfreiche Orientierung sein. 
   
Die "PABB-Regeln" im Überblick:
 
   
  1. Präsent sein.


  2. Auf sich selbst achten.

  3. Bedürfnisse erfragen.

  4. Brücken bauen.

   
Wenn Sie diese Regeln zitieren, bitte  folgende Quelle angeben:

Treibel, Angelika (2021). Vier Grundregeln für Gespräche mit Betroffenen von sexuellen Grenzverletzungen, Gewalt und anderen hoch belastenden Ereignissen.
[online im Internet]: www.angelika-treibel.de/regeln.html


Zu den Regeln im Einzelnen:

Grundsätzliches


Die "PABB-Regeln" sind "Meta-Regeln". Das heißt, sie beschreiben Prinzipien und Haltungen, und keine konkreten Gesprächsinhalte. Jedes Gespräch ist anders, jeder Person ist anders. Deshalb ist es unmöglich, konkrete Inhalte vorzugeben.

zu Regel 1: Präsent sein.
Das ist vielleicht die wichtigste der Regeln. Sie bedeutet: Seien Sie präsent in der Situation und für Ihr Gegenüber. Betroffene spüren meist, ob jemand wirklich „anwesend“ ist oder nicht. Sie müssen nichts tun oder leisten, außer für die/den Betroffene/n in der Situation anwesend und ansprechbar sein. Hören Sie einfach zu. Seien Sie aufmerksam für das, was Ihnen mitgeteilt wird - ohne es sofort bewerten zu müssen und Schlüsse zu ziehen. Sicher werden Ihnen in der Situation viele Gedanken durch den Kopf gehen und Ihre Aufmerksamkeit binden - versuchen Sie trotzdem, mit Ihrer Aufmerksamkeit immer wieder in die Situation und zu Ihrem Gegenüber zurückzukehren.

zu Regel 2: Auf sich selbst achten.
Es ist sinnvoll, wenn Sie in der Gesprächssituation (und danach) auch auf sich selbst achten. Das bedeutet, sich im Verlaufe des Gesprächs immer wieder für einen Moment zu fragen, wie es Ihnen selbst geht und das zu spüren.

Achten Sie auf Ihre eigenen Grenzen.

Wenn Ihnen in einem längeren Gespräch Konzentration und Energie ausgegangen sind, ist es sinnvoll, aktiv damit umzugehen. Sorgen Sie für eine kurze Unterbrechung und achten Sie dabei auf Ihre Bedürfnisse (Regel 3) – öffnen Sie das Fenster, bewegen Sie sich oder besorgen Sie etwas zu trinken, je nach Situation.

Wenn Sie eine/n Betroffene/n über längere Zeit begleiten, können Sie sich zu Ihrer Entlastung selbst psychologische Hilfe in einer allgemeinen psychologischen Beratungsstelle suchen oder auch in einer Fachberatungsstelle (Regel 4).

zu Regel 3: Bedürfnisse erfragen.
Jeder Mensch ist anders. Auch wenn es typische Bedürfnisse von Betroffenen gibt, können Sie nicht wissen, was eine Person in einer konkreten Situation braucht, wenn sie es nicht direkt äußert, oder Sie danach gefragt haben. Es kommt leider häufig vor, dass Bedürfnisse nicht nachgefragt werden. Dies gilt insbesondere auch für Kinder. Selbst als professionelle Person können Sie nicht wissen, was für diese konkrete Person in dieser konkreten Situation hilfreich sein könnte, wenn es nicht klar kommuniziert wurde. Deshalb: Fragen Sie danach. Achten Sie auch auf Ihre eigenen Bedürfnisse (Regel 2). 

zu Regel 4: Brücken bauen.
Ihr Gespräch ist irgendwann beendet. Es ist sinnvoll, aus dem Gespräch heraus zwei „Brücken“ zu bauen: eine kurze und eine lange Brücke. 
Die kurze Brücke bezieht sich auf die Situation direkt nach Ihrem Gespräch. Die lange Brücke auf die Frage, wie es mit dem Anliegen der betroffenen Person perspektivisch weitergeht.

Um die kurze Brücke zu bauen, kann es hilfreich sein, die betroffene Person zu fragen, was sie direkt im Anschluss an das Gespräch tun wird. Das zu besprechen ist sinnvoll, auch um der Gefahr entgegenzuwirken, dass die betroffene Person nach Ende des Gesprächs psychisch „in ein Loch“ fällt.
Die lange Brücke zu bauen beinhaltet, abzusprechen, wie es mit dem Anliegen der Person weitergeht. Das kann z.B. die Verabredung über die Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle sein. Und es beinhaltet die Klärung der Frage, wie Sie beide weiter in Kontakt bleiben und wer gegebenenfalls mit wem Kontakt aufnimmt.



Einige persönliche Worte zum Abschluss
Wenn sich Ihnen jemand mit einem schwerwiegenden Ereignis anvertraut, kommt darin wahrscheinlich auch zum Ausdruck, dass Sie bis dahin sehr viel Richtiges und Wichtiges getan haben, denn jemand hat großes Vertrauen zu Ihnen. Trotzdem kann ein solches Gespräch stressreich und vielleicht auch belastend sein. Dass Sie ganz ohne Stress und ohne Gefühle von Unsicherheit da "durchkommen", ist eher unwahrscheinlich. Das völlige Verschwinden von Unsicherheit kann auch gar nicht das Ziel sein. Das würde womöglich bedeuten, dass Sie nichts mehr abwägen und einem eigenen starren inneren Plan folgen, und nicht mehr auf die Situation reagieren (Regel 1).

Nach vielen Jahren Berufspraxis ist meine Haltung nicht die, dass ich sage, ich hätte absolute Sicherheit im Umgang mit solchen Situationen. Der Unterschied liegt eher darin, dass ich eine größere Sicherheit im Umgang mit meiner Unsicherheit habe und sie im Sinne von "Genau-Hinschauen" und "Abwägen" als Ressource zu schätzen weiß. 

In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Marshall B. Rosenberg abschließen:

"Was es wert ist, getan zu werden, ist es auch wert, unvollkommen getan zu werden."


Wenn Sie aus diesem Text zitieren, bitte  folgende Quelle angeben:
Treibel, Angelika (2021). Vier Grundregeln für Gespräche mit Betroffenen von sexuellen Grenzverletzungen, Gewalt und anderen hoch belastenden Ereignissen.
[online im Internet]: www.angelika-treibel.de/regeln.html
  
Eine Variation dieser Regeln für den Kontext "Täter-Opfer-Ausgleich" findet sich in: Treibel, A. (2019). Fünf Regeln einer opfergerechten Gesprächsführung. In DBH-Fachverband (Hrsg.), Die Stärke der Beteiligten: Selbstbestimmung statt Bedürftigkeit. Tagungsdokumentation des 17. Forums für Täter-Opfer-Ausgleich, Norderstedt, BoD.

Eine erweiterte Fassung der Regeln in Buchform ist in Arbeit.
 
Inhalte der Seite als pdf: Treibel_A_PABB-Regeln.pdf